Heinsberg-Studie: Nachgefragt bei den Verantwortlichen
Was sagt die Heinsberg-Studie, welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen — und welche nicht? Wir haben bei den Verantwortlichen nachgefragt.
Unwissenschaftlich, unverständlich, nicht repräsentativ: Die Pressekonferenz zu ihren Zwischenergebnissen am Donnerstag hat den Verantwortlichen der Heinsberg-Studie nicht nur von Wissenschaftlern viel Kritik eingebracht. Diese stützte sich vor allem auf ein Pressegespräch mit dem Virologen Prof. Dr. Christian Drosten und Prof. Dr. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) im Braunschweig, organisiert vom Science Media Center (SMC).
Die Debatte offenbart das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit — die einen gewissen Zeitrahmen voraussetzt — und dem Anspruch, die Öffentlichkeit zeitnah über Erkenntnisse der Studie zu informieren. Die Ergebnisse könnten schließlich die infektionsschützenden Maßnahmen beeinflussen, die derzeit die gesamte Gesellschaft betreffen. Prof. Dr. Gunther Hartmann leitet das Institut für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie in Bonn und unterstützt die Studie logistisch. Er sagt, die Veranstaltung am Donnerstag habe vor allem darauf abgezielt, zu informieren: „Die Tatsache, dass wir mit einer Zwischenanalyse vor Publikation an die Öffentlichkeit gegangen sind, ist der besonderen Situation geschuldet.“
Christian Drosten hatte zuvor bemängelt, er könne aus der Pressekonferenz nichts ableiten, auch weil es noch kein wissenschaftliches Manuskript gebe. „Selbst, wenn das noch nicht begutachtet ist, müsste ja zumindest mal in Manuskript-Form eine Zusammenfassung präsentiert werden, bevor man damit an die breite Öffentlichkeit geht und auch an die Politik“, bemängelte er, es werde zu wenig erklärt. Kritik, die Hartmann als „unscharfen Vorwurf“ bezeichnet. „Die Publikation zu der Studie wird die für Publikationen üblichen wissenschaftlichen Standards alle erfüllen. Eine Pressekonferenz kann das nicht leisten“, betont er.
Doch hätten auch die Zwischenergebnisse mit der Stichprobe von 500 Tests bereits den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorgeschlagenen Standards entsprochen. “Wir erwarten sehr ähnliche Ergebnisse bei der Gesamtzahl von 1000”, sagt Hartmann. Diese Daten sollten in wenigen Tagen vorliegen. Drosten hatte auch an der Stichprobe Kritik geübt, allerdings basierend auf einer Mutmaßung: „Ich glaube, es handelt sich um ein Zufalls-Populations-Sample, wenn ich das richtig verstanden habe.“
Auf Krauses Einwand, nur eine Person pro Haushalt hätte berücksichtigt werden dürfen, entgegnet Hartmann: “Wir haben mögliche Abhängigkeiten zwischen Personen desselben Haushalts in die statistische Berechnung einbezogen.” Außerdem korrigiert er Krauses Annahme, 200 Haushalte seien in die Zwischenergebnisse einbezogen, auf 240: “Diese Zahl liegt bereits im Rahmen der von der WHO empfohlenen Zahlen [für eine repräsentative Stichprobe, Anm. d. Red.].”
Ähnlich verhält es sich mit der Kritik an den Tests selbst. Drosten hatte angemerkt, dass Studien nur mit “echten Diagnosen” mit Bestätigungstests durchgeführt werden könnten. Auf Nachfrage betont Hartmann, dass der verwendete IgG-Elisa-Test ein CE-Kennzeichen habe, das die geltenden Anforderungen zertifiziere und die Spezifität von mehr als 99 Prozent bestätige. “Untersuchungen an eigenen Kontrollproben, auch von Proben mit anderen Coronaviren, stützen diese Spezifität”, sagt Hartmann.
Ergebnisse nur teilweise auf Deutschland übertragbar
Er stellt weiter klar, dass die Ergebnisse der Studie in Gangelt nicht gänzlich auf Deutschland übertragbar seien: Es ließen sich etwa erstmals Aussagen zur Letalität des Virus — der Wahrscheinlichkeit, im Falle einer Infektion daran zu sterben — für das gesamte Land ableiten. Hier errechneten die Forscher einen Wert von 0,37 Prozent. Dadurch ließen sich die Auswirkungen der Pandemie abschätzen. “Man kann also rechnen und abwägen”, sagt Hartmann.
Zur Einordnung eine Beispielrechnung: 83,7 Millionen (Einwohner*innenzahl, gerundet auf erste Nachkommastelle zum Zeitpunkt der Artikelveröffentlichung) ∙ 60% (Untergrenze der Infektionsrate, die für „Herdenimmunität“ angenommen wird) = 50,2 Millionen Infizierte;
50,2 Millionen Infizierte ∙ 0,37% (Letalität, also Sterblichkeitsrate unter den Infizierten) = 186.000 Tote
Der Anteil an Infektionen könne allerdings nicht auf das Bundesgebiet übertragen werden, da sich die Gemeinde Gangelt durch ein Super-Spreading-Event in einer Sondersituation befunden habe. Für vergleichbare Orte mit ähnlichen Bedingungen ließen sich durch die coronabedingten Todesfälle künftig Rückschlüsse auf die tatsächliche Zahl an Infizierten ziehen. In Gangelt seien vor der Studie etwa 2,4 Prozent Infizierte bekannt gewesen, die Studie ergab nun einen Anteil von 15 Prozent. Die Dunkelziffer liege damit bei 6,25. Hartmann fasst zusammen:
Für Gangelt also harte Zahlen, für Deutschland erstmals vernünftige Schätzgrößen.
Für die Bevölkerung stellt sich vor allem die Frage, wann die aktuellen Beschränkungen wieder gelockert werden. Eine Einschätzung dazu will sich Hartmann nicht anmaßen, das sei eine politische Entscheidung. “Strikte Hygienemaßnahmen sind auf jeden Fall empfehlenswert, um die Geschwindigkeit der Ausbreitung zu verringern, eventuell auch um den Schweregrad der Erkrankung zu verringern”, betont er. Die Hygienemaßnahmen der Phase zwei entsprächen denen, wie sie aktuell in Supermärkten und anderen Bereichen umgesetzt würden. Sprich: Abstandsregeln, Handhygiene, das Tragen von Mund-Nasenschutz bei engerem Kontakt.
Kritiker machen außerdem darauf aufmerksam, dass die vom Land Nordrhein-Westfalen finanzierte Studie von einer PR-Beratung begleitet wird. Diese Rolle sei jedoch lediglich beobachtend und habe “keinerlei Einfluss auf Konzeption und Durchführung der Studie”, sagt Hartmann. Prof. Hendrik Streeck merkt hierzu an, dass diese Begleitung vollständig unentgeltlich erfolge — dies bestätigt auch die Antwort auf die “kleine Anfrage” der Landtagsabgeordneten Sarah Philipp (SPD) im Landtag. Laut Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) floss kein Geld der 65.315 Euro Landesmittel in die PR-Beratung. Streeck ergänzt, dass die Arbeit des PR-Teams vor allem die sozialen Medien betreffe: “Eine hohe Transparenz beim Entstehen der Studie ist in diesen Zeiten wichtig, eine Entlastung in diesem Bereich verschaffte mir zudem wertvolle Zeit für die Studienarbeit.”
Von: Niklas Golitschek und Lena Reiner
Anm. der Autor*innen: Da wir den Eindruck haben, dass Christan Drostens Kritik an der Studie medial zu einem “Schlagabtausch” zugespitzt wurde, haben wir inzwischen auch einen kleinen Fragenkatalog an Christian Drosten geschickt. Worauf sich der Eindruck begründet? Inhaltlich liegen Drosten und das Heinsberg-Team gar nicht so weit voneinander entfernt; beispielsweise spricht Drosten von einer Letalität zwischen 0,3 und 0,7%, was zum Zwischenergebnis der Heinsberg-Studie (s.u.) passt. Sobald wir Antworten erhalten haben, folgt hier eine Fortsetzung.